Seit vielen Jahren sind sie bei einer Reihe von Genossenschaften schon gelebte Praxis. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie wurden sie fast zum Alltag – die virtuellen Generalversammlungen von Genossenschaften. Nun hat sich das erste Mal ein Oberlandesgericht (OLG) damit auseinandergesetzt und kommt zu dem überraschenden Schluss, dass virtuelle Generalversammlungen von Genossenschaften unzulässig seien. Das OLG Karlsruhe hatte über die Eintragung einer Verschmelzung in das Genossenschaftsregister zu entscheiden. Das zuständige Registergericht hatte die Eintragung mit der Begründung abgelehnt, dass die für einen Verschmelzungsbeschluss erforderliche Versammlung als virtuelle Generalversammlung stattgefunden habe, eine solche aber unzulässig sei. Das OLG Karlsruhe ist dieser Auffassung mit einem noch nicht rechtskräftigen Beschluss vom 26.03.2021 gefolgt.
Mit diesem Beitrag möchten wir darstellen, wie und warum nach unserer Ansicht virtuelle Versammlungen möglich sind.
Die gemeinsame Willensbildung der Mitglieder einer Genossenschaft erfolgt in der Generalversammlung. Diese findet im gesetzlichen Regelfall als Präsenzveranstaltung – also mit räumlicher Anwesenheit der Teilnehmer – statt. Das Gesetz regelt dies in § 43 Absatz 1 Genossenschaftsgesetz (GenG) wie folgt:
Die Mitglieder üben ihre Rechte in den Angelegenheiten der Genossenschaft in der Generalversammlung aus, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt.
Die Generalversammlung ist das höchste beschlussfassende Organ der Genossenschaft, sie ist der Ausdruck der Selbstverwaltung der Genossenschaft durch die Mitglieder. Die Rechte, die die Mitglieder in der Generalversammlung ausüben können, sind die folgenden:
- Recht auf Teilnahme,
- Vorschlagsrecht (Anträge und Anregungen),
- Rederecht,
- Auskunftsrecht und
- Stimmrecht.
Das Genossenschaftsgesetz regelt eine virtuelle Generalversammlung nicht ausdrücklich. Ist dem OLG Karlsruhe deshalb zu folgen, dass diese nicht möglich, sogar unzulässig ist? Nein, weil das Gesetz einen Rahmen schafft, der von Genossenschaften genutzt werden kann, um virtuelle Versammlungen durchzuführen.
1. Gesetzeslage (ohne COVID-19-Ausnahmegesetz)
Das Genossenschaftsgesetz wurde 2006 sehr umfangreich geändert. Im Rahmen dieser Reform wurde in § 43 Absatz 7 GenG eine damals sehr fortschrittliche Regelung aufgenommen:
Die Satzung kann zulassen, dass Beschlüsse der Mitglieder schriftlich oder in elektronischer Form gefasst werden; das Nähere hat die Satzung zu regeln. Ferner kann die Satzung vorsehen, dass in bestimmten Fällen Mitglieder des Aufsichtsrats im Wege der Bild- und Tonübertragung an der Generalversammlung teilnehmen können und dass die Generalversammlung in Bild und Ton übertragen werden darf.
Vorbild für diese Regelung war die europäische Genossenschaft, die 2006 in deutsches Recht eingeführt worden ist. In Art. 58 Absatz 4 SCE-Verordnung ist geregelt:
In der Satzung kann die Möglichkeit einer Abstimmung auf schriftlichem Wege oder in elektronischer Form vorgesehen werden; die Einzelheiten werden in der Satzung festgelegt.
Auf dieses Vorbild weist die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/1025, S. 87) auch hin:
Mit dem neuen Absatz 7 wird in Satz 1 die Regelung des Artikels 58 Abs. 4 der SCE-Verordnung aufgegriffen. Danach können künftig Beschlüsse der Generalversammlung auch schriftlich oder elektronisch gefasst werden, sofern die Satzung dies vorsieht. Sie muss durch ein entsprechendes Regelwerk sicherstellen, dass die Rechte aller Mitglieder gewahrt bleiben und die Ordnungsmäßigkeit der Stimmabgabe gewährleistet ist. Unter diesen Voraussetzungen ist auch die Durchführung einer virtuellen Generalversammlung per Internet denkbar; in der Praxis wird dies aber derzeit nur in seltenen Ausnahmefällen, z. B. bei einer Genossenschaft aus dem IT-Bereich, in Betracht kommen.
Ergänzend werden in Satz 2 die Regelungen des §118 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 AktG übernommen, wonach die Teilnahme von Aufsichtsratsmitgliedern an der Generalversammlung sowie die Übertragung der Generalversammlung in Bild und Ton durch die Satzung zugelassen werden können.
Aus unserer Sicht muss man daher zwischen zwei Möglichkeiten unterscheiden:
- einer Präsenzveranstaltung (gesetzlich geregelt) und
- einer virtuellen Versammlung (satzungsmäßig geregelt).
Die Präsenzversammlung ist weiterhin der gesetzliche Normalfall, so wie es auch § 43 Absatz 1 GenG festlegt – die Mitglieder üben in (!) der Generalversammlung ihre Rechte aus. Auch diese Präsenzversammlung wurde modernisiert: § 43 Absatz 7 Satz 2 GenG bietet als Möglichkeit,
- die Präsenzversammlung in Bild und Ton zu übertragen und
- Aufsichtsratsmitglieder (aber eben nur diese) im Wege der Bild- und Tonübertragung an einer Präsenzversammlung teilnehmen zu lassen.
Vorbild für diese Regelung war das Aktienrecht, das diese Möglichkeit schon bot.
Neben die gesetzlich geregelte Präsenzversammlung tritt nun die in der Satzung geregelten schriftlichen oder elektronischen Beschlussfassung der Mitglieder. Auf den ersten Blick scheint es, als handle es sich dabei nur um eine abweichende Möglichkeit der Beschlussfassung, die keinen Versammlungscharakter haben kann: Statt der Stimmabgabe per Handzeichen oder Stimmzettel erfolgt diese schriftlich oder elektronisch.
Aber das Gesetz erlaubt der Genossenschaft das Nähere zu dieser Art der Beschlussfassung zu regeln. Unter Einbeziehung der Gesetzesbegründung wird deutlich, dass es bei dem Näheren nicht allein um technische Fragen geht, sondern um die Wahrung der Rechte der Mitglieder. Damit verweist die Gesetzesbegründung aus unserer Sicht auf § 43 Absatz 1 GenG und die dort verankerten Rechte der Mitglieder.
Das bedeutet, dass das Genossenschaftsgesetz die Möglichkeit bietet, in der Satzung eine virtuelle Generalversammlung zu regeln.
Das ist auch zulässig. Nach § 18 Satz 2 GenG darf die Satzung nur insoweit von den Bestimmungen des Genossenschaftsgesetzes abweichen, als dies ausdrücklich für zulässig erklärt ist. Und diese Erlaubnis ist in § 43 Absatz 7 Satz 1 GenG ausdrücklich erteilt.
Solange die Genossenschaft die Rechte der Mitglieder wahrt, hat sie unterschiedliche Möglichkeiten hinsichtlich der Durchführung. Sie Satzung kann sich in dem Regelwerk darauf beschränken und die Rechte der Mitglieder im Rahmen eines schriftlichen oder elektronischen Umlaufverfahrens zu gewähren. Dann kann man tatsächlich nicht von einer virtuellen Generalversammlung sprechen.
Allerdings kann die Satzung auch weitere (nähere) Regeln dazu aufstellen, wie die Rechte der Mitglieder umfangreich gewahrt bleiben. Also regeln, wie die Mitglieder nicht nur abstimmen können, sondern mitwirken (Teilnahmerecht, Vorschlagsrecht, Rederecht, Auskunftsrecht). Wenn die Mitglieder auf eine solche Art und Weise eingebunden werden, sie also virtuell zusammenkommen, dann hat die Satzungsregelung auch einen Charakter einer virtuellen Generalversammlung.
Daher haben wir die Regel auch immer so interpretiert, dass bei der Einführung der virtuellen Generalversammlung darauf geachtet werden muss, dass klar geregelt wird:
- wie die Mitglieder zu einer Diskussion „zusammenkommen“ können und
- wie die Beschlussfassung durchgeführt wird.
Dabei hat zu gelten: Bei der Frage der Diskussion der Mitglieder gibt es -unter Wahrung der Rechte der Mitglieder- große Satzungsfreiheit. Bei der Frage der Beschlussfassung dagegen gilt Gesetzesstrenge, hier kann nur schriftlich oder elektronisch abgestimmt werden.
Satzungsregelungen unsere Mitglieder, die dieses umgesetzt haben, sind regelmäßig von den Registergerichten eingetragen und von den Mitgliedern erfolgreich genutzt worden.
Die Gesetzesbegründung weist darauf hin, dass die Durchführung virtueller Generalversammlung unter diesen Voraussetzungen denkbar ist, in der Praxis aber derzeit (!) nur in Ausnahmefällen, z.B. bei IT-Genossenschaften in Betracht kommt. Dies bedeutet zunächst eine klare gesetzgeberische Wertung, dass virtuelle Generalversammlungen mit der Regelung grundsätzlich ermöglicht werden. Die Einschätzung der Praxistauglichkeit begründet sich insbesondere an den technischen Möglichkeiten, die Genossenschaften damals hatten. Seit der Einführung dieser Regel sind fast fünfzehn Jahre vergangen. Die technischen Möglichkeiten haben sich seitdem drastisch verändert – nicht nur durch die COVID-19-Pandemie, sondern durch die allgemeine Entwicklung. Das ändert aber nichts an der Zulässigkeit einer virtuellen Generalversammlung damals wie heute.
Das OLG Karlsruhe hat das Gesetz und die Möglichkeiten anders interpretiert und kommt daher zu einer anderen (aus unserer Sicht falschen) Wertung. Wir bleiben dabei, dass aus unserer Sicht bei einer entsprechenden Satzungsregelung auch virtuelle Gneralversammlungen möglich sind.
Für unsere Mitglieder haben wir entsprechende Muster für virtuelle Generalversammlungen entwickelt, die diese bei uns anfordern können.
2. Virtuelle Versammlungen unter der COVID-19-Ausnahmeregelung
Das OLG Karlsruhe hat ausgehend von dieser Betrachtungsweise entschieden, dass eine virtuelle Versammlung unter Berücksichtigung der COVID-19-Ausnahmeregelungen nicht möglich ist. Zur Begründung führt es dabei insbesondere aus, dass die Ausnahmeregelung im Gegensatz zur Aktiengesellschaft oder dem eingetragenen Verein keine besonderen Regeln dazu getroffen hat.
Auch diese Sichtweise ist aus unserer Sicht zu eng und daher falsch.
Dem OLG Karlsruhe ist zuzustimmen, dass die COVID-19-Ausnahmeregelungen virtuelle Generalversammlungen für Genossenschaften nicht ausdrücklich regeln. Das liegt aber eben nicht an einem Fehler des Gesetzgebers, sondern daran, dass dieser an eine (wie gerade dargestellt) ohnehin bereits bestehende Möglichkeit angeknüpft hat.
Die Regelung in § 3 Absatz 1 COVMG lautet:
Abweichend von § 43 Absatz 7 Satz 1 des Genossenschaftsgesetzes können Beschlüsse der Mitglieder auch dann schriftlich oder elektronisch gefasst werden, wenn dies in der Satzung nicht ausdrücklich zugelassen ist. Der Vorstand hat in diesem Fall dafür zu sorgen, dass der Niederschrift gemäß § 47 des Genossenschaftsgesetzes ein Verzeichnis der Mitglieder, die an der Beschlussfassung mitgewirkt haben, beigefügt ist. Bei jedem Mitglied, das an der Beschlussfassung mitgewirkt hat, ist die Art der Stimmabgabe zu vermerken. Die Anfechtung eines Beschlusses der Generalversammlung kann unbeschadet der Regelungen in § 51 Absatz 1 und 2 des Genossenschaftsgesetzes nicht auf Verletzungen des Gesetzes oder der Mitgliederrechte gestützt werden, die auf technische Störungen im Zusammenhang mit der Beschlussfassung nach Satz 1 zurückzuführen sind, es sei denn, der Genossenschaft ist Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen.
Das Gesetz hat lediglich den Satzungsvorbehalt für die Durchführung einer schriftlichen oder elektronischen Beschlussfassung aufgehoben und somit schriftliche und elektronische Beschlussfassungen und dementsprechend auch virtuelle Generalversammlungen auch ohne eine entsprechende Satzungsregelung möglich gemacht. Diese Möglichkeit mag für andere Rechtsformen zuvor gar nicht bestanden haben, so dass der Gesetzgeber sie für diese erst grundsätzlich eröffnen musste.
Wie ist diese Regelung aus unserer Sicht nun zu verstehen und unter welchen Rahmenbedingungen sind nun virtuelle Versammlungen möglich?
Unter normalen Bedingungen muss (wie soeben dargestellt) die Satzung das Nähere regeln, also ein Regelwerk aufstellen, mit dem die Rechte der Mitglieder gewahrt bleiben. Damit diese aber auch unter Berücksichtigung der COVID-19-Pandemie gewahrt bleiben, muss das Regelwerk nun im Einzelfall durch das Organ geregelt werden, welches die Beschlussfassung herbeiführen möchte. Das ist in der Regel der Vorstand. Je nachdem um was es sich handelt, kann sich die Genossenschaft auf ein Umlaufverfahren beschränken oder zu einer virtuellen Generalversammlung einladen.
Auch die Gesetzesbegründung zu dieser Ausnahmeregelung spricht deutlich davon, dass eine virtuelle Versammlung möglich sein soll:
Es handelt sich um eine Sonderregelung zu § 43 Absatz 7 GenG. Die Regelung ermöglicht die Durchführung einer „virtuellen“ General- oder Vertreterversammlung vorübergehend auch dann, wenn die Satzung diesbezüglich keine entsprechenden Regelungen enthält. (…) Durch die Beschränkung der Anfechtungsmöglichkeit bei technischen Störungen soll verhindert werden, dass die Genossenschaften allein aufgrund von technischen Unsicherheiten die Erleichterungen nicht in Anspruch nehmen.
Insofern gelten die oben erwähnten Grundsätze: Das Gesetz gibt vor, wie eine Beschlussfassung zu erfolgen hat (schriftlich oder elektronisch). Die Genossenschaft regelt (autonom) wie die Diskussion / Meinungsfindung erfolgt. Bei der Regelung des „Wie“ ist die Genossenschaft frei, es kommen (insbesondere) in Betracht:
- Umlaufdiskussionen,
- Telefonkonferenzen oder
- Videokonferenzen.
Je nachdem, wie das einladende Organ die näheren Regelungen aufstellt, kann es sich um einen Umlaufbeschluss handeln (insbesondere zu isolierten eher unstrittigen Entscheidungen) oder eben um eine virtuelle Generalversammlung, in der die Rechte der Mitglieder voll umfänglich gewahrt sind.
Zusammen mit unserem Dachverband (Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband – DGRV) sind wir daher der Ansicht, dass virtuelle Generalversammlungen zulässig und möglich sind:
- außerhalb der COVID-19-Pandemie mit einer entsprechenden Satzungsregelung und
- während der COVID-19-Pandemie (befristet bis zum 31.12.2021) auch ohne eine solche Satzungsregelung.
Der DGRV hat in diesem Zusammenhang ein Rundschreiben verfasst, welches wir als Argumentationshilfe bei Diskussionen mit den Registergerichten unseren Mitgliedern gerne zur Verfügung stellen.
Darüber hinaus sind wir unseren Mitgliedern bei der Nutzung der COVID-19-Ausnahmeregelungen behilflich und verweisen auf unsere Hinweise zur Beschlussfassung unter der Berücksichtigung der COVID-19-Ausnahmeregelungen. Dort finden Sie Muster dazu, wie Sie eine schriftliche oder elektronische Beschlussfassung durchführen können und gleichzeitig die Rechte der Mitglieder wahren können.